Heute war es wieder so weit: Eine Mutter lies sich darüber aus, dass sie von ihren Eltern und Schwiegereltern für ihre Erziehungsmethoden kritisiert werde. Das sei eine Frechheit, schließlich sei es ihr Kind – das übrigens wohlgeraten, ruhig, toll entwickelt und super genährt, außerdem echt groß/weit/einfühlsam/pink für sein Alter wäre (sagen auch der Kinderarzt/die Hebamme/die Stillberaterin/die Heilpraktikerin)- ihr Leben und sie wisse, was das Richtige sei. Überhaupt findet sie alle diese Vorgaben und Richtlinien großen Mist, DENN: Sie hört auf ihr Bauchgefühl. So wie sie sollten das auch alle anderen Mütter machen, einfach auf ihr Gefühl vertrauen. Mutter Natur und der Instinkt werden das schon richten. Solche Kommentare sind in beinahe allen sozialen Netzwerken und einschlägigen Müttergruppen zu hören, gerne gekoppelt an den Hinweis, sich nicht von Ratgeberliteratur, Großeltern, anderen Eltern, dem Kinderarzt, der STIKO, der WHO oder einem Psychiater verunsichern zu lassen. Maximal haben die Stillberaterin oder der Ostheopat ein Wörtchen mitzureden.
Das vielbeschworene Bauchgefühl ist ein echtes Phänomen unserer Zeit. Witzigerweise hat sogar eine große Elternratgeberzeitschrift ihr Layout nun darauf ausgerichtet. Ratgeber für das elterliche Bauchgefühl?
Dass sich die Zeitschrift damit nicht selbst unnötig macht zeigt ziemlich gut, dass Bauchgefühl offensichtlich doch nicht alles ist (und Eltern sich sehr gerne selbst beweihräuchern: „Lies mal Schatz, wir machen das alles richtig, toll, nicht? Nur dieser kleine Tipp da, aber das kann man ja einbauen“)
Seltsamerweise wird dieses Bauchgefühl allen anderen abgesprochen – denn wer anders handelt als der eigene Bauch, mit dessen Bauch kann ja irgendwas nicht ganz stimmen. Zu viel Kopf? Blähungen? Zu viele Kohlenhydrate in der Ernährung?
Den Vätern muss in vielen Fällen „Bauchgefühl“ erst beigebracht werden. Am Besten das, das die Mutter auch hat, denn schließlich kennt sie ihr Kind in und auswendig. Dass das auch vorherige Generationen von Müttern dachten und deren Bauchgefühl ihnen etwas ganz anderes riet, wird gerne mal übersehen. Auch damals war schon die Maxime, dass es dem Kind gut gehen sollte. Das Kind sollte das Beste für seine Entwicklung erhalten – und das damalige Bauchgefühl gab weiter, dass zu abhängige Kinder auch abhängige Erwachsene werden, dass ständiges Tragen der Haltung schadet und dass Muttermilch nicht ausreichend sättigt – warum sonst sollte das Kind schreien?
Auch wenn wir heute meinen zu wissen, wie man es besser macht, schreibt uns das ja nicht von Großmut gegenüber vergangenen Generationen frei. Wären die lieben Mütter ein wenig Weitsichtiger könnten sie mal den Rollentausch versuchen: Was werden wohl ihre Söhne und Töchter sagen, wenn in 20 – 35 Jahren die nächste Generation Kinder das Licht der Welt erblickt? Immerhin haben die heutigen Mütter ja alles richtig gemacht, denn ihre Kinder konnten glücklich und gesund aufwachsen und sind zu tollen Erwachsenen geworden. Kann ja so falsch nicht gewesen sein (denken auch unsere Eltern und Großeltern). Was, wenn unsere Kinder es einmal ganz anders machen, weil ihr „Bauchgefühl“ etwas anderes sagt? Und das unserem Gefühl so gar nicht entspricht? Wir werden genauso nervtötend sein und wir werden unsere Kinder als ziemlich egozentriert und arrogant empfinden, wenn sie von unseren Ratschlägen so gar nichts hören wollen.
Denn: Bauchgefühl ist fehlerhaft. Ja, es gibt einige Faktoren, die genetisch verankert sind. Mütterliches Sprachverhalten beispielsweise oder die Art der Interaktion mit dem Baby. Diese Faktoren zeigen sich aber bei jedem gesunden, halbwegs empathischen und interessierten Menschen. Der Rest ist erlernt, anerzogen, angelesen. Wir sind zahlreichen Einflüssen ausgesetzt, unsere Erfahrungen prägen uns und eben auch das Handeln mit den Kindern. Wir schmökern im Internet, sind in Geburtsvorbereitungsgruppen, lassen uns von Hebammen beraten, sehen Filme, hören Musik – und nicht zuletzt waren wir selbst Kind. Aber aus den Schlüssen, die wir daraus für unseren eigenen Alltag ziehen, können sich eben auch Fehler ergeben.
Ich behaupte, dass jede Mutter irgendwo Fehler macht. Wir können nicht anders, wir sind menschlich. Und dass sich ein Kind gut entwickelt, ist primär keine Leistung der Eltern oder der Erziehungsmethode. Wir erinnern uns an die Großeltern: Die hielten ihre Kinder auch für prima entwickelt und vielleicht waren sie es tatsächlich. Denn das ist eine Leistung der Kinder, die sich an jede Umgebung anpassen. Sie nehmen dankbar das auf, was wir ihnen bieten.
Gute Eltern sind fähig, sich zu reflektieren. Sie suchen im Internet oder auf anderen Plattformen nicht ständig nur die Bestätigung, sie suchen abweichende Meinungen und überprüfen sie. Sie überprüfen auch sich selbst und ihr Bauchgefühl. Sie glauben nicht, allwissend zu sein und nehmen Ratschläge nach eingehender Prüfung auch mal an. Wir sind nicht plötzlich Götter in Sachen Kindererziehung, nur weil wir es fertig bekommen haben, eines in die Welt zu setzen.
Wenn das Bauchgefühl aller Eltern unfehlbar wäre, würden nicht reihenweise Kinder um den 3. Monat zur Flasche hin abgestillt werden, weil die Eltern denken, das Kind würde von der Muttermilch nicht mehr satt. Würden junge Mütter nicht bei jedem Wehwehchen zum Kinderarzt rennen, weil ja doch irgendwas sein könnte. Bräuchten wir keine Homöopathie. Wäre jedes Forum, jede Hilfeplattform unnötig. Bräuchte man kein Jugendamt. Wäre Kindeswohlgefährdung kein Thema. Würden alle Eltern überall auf der Welt bedürfnisorientiert mit ihrem Kind umgehen, ganz losgelöst von kulturellen Hintergründen.
Aber so ist es nicht. Manchmal brauchen wir Rat und wir sollten ihn auch annehmen können. Ob wir wahnsinnig gute Mütter und Väter sind sehen wir nicht daran, wie groß unser Kind ist, wie schnell es läuft und spricht, ob es durchschläft, gut isst, noch viel stillt, gerne mit uns kuschelt, selbstständig spielt oder das Tragen liebt. Wir merken es daran, wie wir mit unseren Fehlern umgehen. Wir werden es merken, wenn unsere Kinder Erwachsene sind.